
Liebe Genossinnen und Genossen,
leider werde ich bei der Mitgliederversammlung nicht anwesend sein können, weil ich wegen der laufenden Plenarwoche in Berlin bin. So grüße ich euch auf diesem Wege herzlich und wünsche euch eine angeregte politische Debatte.
Meinen kurzen Politischen Bericht möchte ich nicht beginnen, ohne das Gedenken an den vorbildlichen sozialdemokratischen Politiker und Staatsmann Johannes Rau voranzustellen. Im Sommer des letzten Jahres erlebte ich ihn persönlich, als er in der NRW-SPD Landesgruppe den damaligen Landesgruppenvorsitzenden Hans-Peter Kemper verabschiedete. Die verlorene Landtagswahl lag erst wenige Wochen zurück. Die vorgezogene Bundestagswahl zeichnete sich ab. Deutlich von schwerer Krankheit gezeichnet zog er mit nüchternem Blick und den ihm eigenen launigen Worten Bilanz und gab uns zugleich mahnend mit auf den Weg: „Bleibt nah bei den Menschen, bemüht euch um deren Vertrauen. Erklärt das, was ihr tut verständlich. Dann wird die SPD nicht nur in NRW wieder die prägende Kraft.“
Vor wenigen Tagen verabschiedeten wir uns von Johannes Rau in einem bewegenden Gottesdienst mit anschließendem Staatsakt.
Doch jetzt hat uns der politische Alltag wieder fest im Griff; deshalb ein kurzer Bericht aus Berlin:
•Nachdem wir bei den Verhandlungen deutlich sozialdemokratische Akzente in die Koalitionsvereinbarung durchsetzen und auch starke Akteure für die von uns zu besetzenden Ministerämter benennen konnten, erleben wir zurzeit die „Mühe der Ebene“. Will sagen:
Dass, was klar in der Koalitionsvereinbarung festgelegt und vom Bundesparteitag in Karlsruhe beschlossen wurde, löst in dem Moment, wo es konkret umgesetzt werden soll(naturgemäß) Diskussionen aus. Das gilt gleichermaßen für die Stichworte
a)Familienförderung durch die steuerliche Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten,
b)Stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf das 67. Le-bensjahr in der Zeit zwischen 2012 und 2029,
c)Grundsätzliche Einbeziehung der unter 25jährigen arbeitslosen Erwachsenen in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern.
Zur Erhöhung des Renteneintrittsalters gebe ich euch einen Auszug aus dem „Newsletter“ der Bundestagsfraktion wieder, der die Bundestagsdebatte der letzten Woche zusammenfasst.
„In einer Aktuellen Stunde auf Antrag der Fraktion Die Linke wurde am Donnerstag das Thema Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters diskutiert. Bundesminister Franz Müntefering vertei¬digte die geplante Anhebung des Renteneintrittsalter auf 67 Jahre.
Die vorgeschlagene Änderung diene langfristig der Stabilität der Rentenkasse, so Müntefering. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales betonte, dass die Regierung die Anhebung des Rentenalters auf 67 bis zum Jahr 2029 flankieren werde mit einer „Initiative 50 plus“, mit der die Beschäftigungschancen für Ältere verbessert würden. Er wies darauf hin, dass die Lebenszeit immer länger, die Arbeitszeit aber immer kür-zer werde. Als wichtige Themen in dem Zusam¬menhang nannte Müntefering Arbeitsschutz, Weiterbildung und den Ausbau der privaten Alters¬vorsorge.
Die Rednerinnen und Redner der Koalitionsfraktionen stellten klar, dass die Regelung erst ab 2012 beginne und erst ab 2030 die volle Anhebung auf 67 Jahre gelte. Elke Ferner betonte in dem Zusammenhang, dass die Bundesregierung soeben einen Ge-setzentwurf beschlossen habe, nach dem die Rentner vor einer möglichen Rentenkürzung geschützt werden. Anton Schaaf wies darauf hin, dass es verantwortungsvoll sei, den Menschen jetzt schon zu erklären, was ab 2012 auf sie zukomme. Beschäftigungsquote und Weiterbildung liege aber nicht allein im Verantwortungsbereich der Politik, so Schaaf weiter, sondern vor allem auch im Bereich der Unternehmen.“
Klar ist, dass innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens viele Details sorgfältig geprüft werden müssen. Dabei steht für mich im Zentrum, was es für die Höhe der Rentenanwartschaft bedeutet, wenn Erwerbsunfähige nach einem langen und oftmals harten Berufsleben vorzeitig ausscheiden und (nach geltendem Recht) mit noch höheren Rentenabschlägen klarkommen müssen. Wir haben in der Fraktion darauf gedrängt, dass hier ein Ausgleich gesucht werden muss. Und ich bin sicher, dass dies auch tatsächlich geschehen wird.
Wer an weitergehenden Informationen (auch zu anderen Themen) interessiert ist, bitte ich sich an das Wahlkreisbüro in der Hopfenstraße zu wenden.
•Ich möchte euch auf ein anderes Thema einstimmen, dass in den nächsten Monaten die politische Debatte bestimmen wird. Es geht um das Thema „Existenzsichernde Löhne“. In der Partei aber auch in der Bundestagsfraktion wurde vereinbart, dass wir sorgfältig die verschiedenen Modelle prüfen werden. Ich rege an, dass sich die SPD in Moers ebenfalls des Themas annimmt. Damit ihr euch selbst einen Überblick verschaffen könnte, füge ich diesem Grußwort ein Papier bei, in dem die wesentlichen Basisinformationen zusam-mengefasst sind. Der SPD Stadtverband hat das Thema für eine Diskussionsveranstaltung Mitte des Jahres ins Auge gefasst. Ich fände des gut, wenn wir die Debatte unserer Partei intensiv mitgestalten.
Ich bitte um Nachsicht, dass ich nicht ausführlicher werden kann, doch zwingen mich dringende Anschlusstermine, diesen Brief jetzt zu beenden.
Mit freundlichen Grüßen
euer
Siggi Ehrmann
Debatte über „Existenzsichernde Löhne“
Arbeit zu schaffen ist das zentrale Anliegen der Regierung. In der aktuellen Diskussion wird zunehmend über das Für und Wider von sog. Kombilohnmodellen diskutiert. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es eine allgemeingültige Definition von Kombilöhnen nicht gibt. Jeder versteht darunter etwas anderes. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Stimmen aus Wissenschaft und Verbänden zu diesem Thema sehr unterschiedlich sind:
Für ein Kombilohnmodell plädieren u. a. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und der Chef des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Ifo-Chef Sinn sagte dem «Focus», er halte das Kombilohnmodell für die wichtigste Reformentscheidung des Jahres 2006.
Dagegen weisen andere Experten der Wirtschaft auf die enormen Kosten einer generellen Einführung von Kombilöhnen hin. Der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks sagte der «Berliner Zeitung»: „Kombilohnmodelle, die auf großzügige finanzielle Anreize für die Betroffenen setzen, sind nicht der richtige Weg, gering Qualifizierte wieder in Beschäftigung zu bringen.“
Auch der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, Peter Clever, ist skeptisch: „Eine flächendeckende Lohnsubventionierung ist unbezahlbar und unsinnig. Sie würde zu Missbrauch und Mitnahmeeffekten geradezu einladen.“
In Genshagen hat das Bundeskabinett beschlossen, dass eine vom Bundes¬minister für Arbeit und Soziales einzurichtende Arbeitsgruppe bis zum Herbst 2006 Vorschläge für mehr Beschäftigung für gering qualifizierte Menschen erarbeiten soll. Dabei soll einerseits sichergestellt werden, dass Löhne nicht in den Bereich der Sittenwidrigkeit heruntergedrückt werden können, aber anderer¬seits Menschen mehr als bis¬her die Möglichkeit auch zur Beschäftigung mit nied¬rigem Einkommen erhalten.
Wir werden diese Diskussion in der Fraktion mit einer von Ludwig Stiegler geleiteten Arbeitsgruppe begleiten. Dabei sind u. a. die Fragen zu klären, ob es erstrebenswert und notwendig ist, den sog. Niedriglohnbereich auszubauen und welche Erfahrungen mit den unterschiedlichen Kombilohnmodellen, die es in Deutschland gab und gibt, gemacht wurden. Zu untersuchen ist auch, inwieweit Ergebnisse in anderen Ländern auf die deutschen Verhältnisse übertragbar sind.
Beispiele von Kombi-Modellversuchen in den Bundesländern
Das zum 1. März 2002 eingeführte und zum 31. März 2003 wieder eingestellte Mainzer Modell sollte für Beschäftigte im Bundesland Rheinland-Pfalz den Übergang zwischen geringfügiger und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erleichtern. Im Detail sah die Regelung folgendes vor:
Wer als Arbeitnehmer
mindestens 15 Wochenstunden arbeitete
einen neuen Job antrat (auch ein Wechsel von einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis beim selben Arbeitgeber zählte als neuer Job) und
als Lediger über 325 Euro und weniger als 897 Euro verdiente bzw. als Alleinerziehender oder Verheirateter weniger als 1707 Euro
erhielt
ein höheres Kindergeld (77 Euro zusätzlich)
Zuschüsse zu den Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung.
Diese Zuschüsse wurden degressiv gewährt: Das heißt, wer 325 Euro verdiente, bekam die Sozialversicherungsbeiträge vollends erstattet, der Zuschuss nahm sukzessiv ab.
Durch die Einführung der Niedriglohn-Jobs wurde das Prinzip des Mainzer Modells de facto auf ganz Deutschland ausgeweitet.
Ebenfalls am 1. März 2002 wurde für Hamburger Arbeitslose das Hamburger Modell eingeführt. Dieses noch immer praktizierte Modell beinhaltet einen auf maximal 10 Monate befristeten Lohnkostenzuschuss für Langzeitarbeitslose.
Er wird zu gleichen Teilen von einer Arbeitsgemeinschaft der Agentur für Arbeit Hamburg (ARGE) an Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgezahlt. Gefördert werden Arbeitsverhältnisse von wöchentlichen Arbeitszeiten von mehr als 15 Stunden. Bei einer Arbeitszeit von über 15 bis unter 35 Wochenstunden beträgt die Förderung 125 € je Monat, bei einer Arbeitszeit von mindestens 35 Stunden 250 €. Der Zuschuss ist sozialversicherungsfrei und zählt nicht mit zum Bruttolohn. Zusätzlich erhält der Arbeitnehmer einen Bildungsgutschein über bis zu 2.000 €/Jahr. Der Arbeitgeber muss für die Förderung eine zusätzliche, sozialversicherungspflichtige Stelle schaffen, die ortsüblichen Bedingungen entspricht (keine Subvention von Lohndumping). Der Lohn muss damit über 400 € liegen, darf gleichzeitig aber 1.700 € nicht überschreiten.
Unbefristete Kombilöhne
Durch die Einführung von Mini- und Midi-Jobs und der Möglichkeit eines teilweise anrechnungsfreien Hinzuverdienstes zum Arbeitslosengeld II gibt es auf Bundesebene mind. drei zeitlich unbefristete bundesweite Kombilöhne:
•Bei Minijobs (bis 400 € monatlich) müssen keine Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung entrichtet werden.
•Bei höheren Entgelten bis zu 800 € monatlich (Midi-Jobs) fallen seit April 2003 nur noch ermäßigte Arbeitnehmerbeiträge an (Zwischen 400,01 € und 800 € monatlich erhöht sich der Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitnehmers relativ zum steigenden Bruttoverdienst von 4 % auf 21,5 %. Der Arbeitgeberbeitrag bleibt unverändert.).
•Empfängern von ALG II wird Erwerbseinkommen nur teilweise angerechnet, 100 € monatlich sind seit Oktober 2005 vollständig anrechnungsfrei.
Die Inanspruchnahme aller drei Kombilöhne ist hoch: Im August 2005 gab es 6,6 Mio. Mini-Jobber, davon 4,8 Mio. hauptberufliche und 1,8 Mio., die zugleich eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübten.
Im Jahr 2003 gab es rd. 669.000 Personen, die einen Midi-Job ausübten und nach inoffiziellen Schätzungen könnten 700.000 – 800.000 Empfänger von ALG II einen anrechnungsfreien Hinzuverdienst haben (Blickpunkt Arbeit und Wirtschaft 04/2005).
Fast 8 Mio. Menschen arbeiten also bereits in einem Kombilohnmodell. Allerdings sind diese drei Kombilohnmodelle nicht darauf ausgerichtet, gering Qualifizierte und Langzeitarbeitslose in eine existenzsichernde Beschäftigung des ersten Arbeitsmarktes zu integrieren.
Regelung des Mindestlohns in Deutschland und in anderen Ländern
Eng verbunden mit der Frage nach Kombilöhnen ist die Frage nach existenzsichernden Löhnen bzw. von Mindestlöhnen.
Wir haben, zusammen mit den Gewerkschaften, die Bereitschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt, im Zusammenhang mit der Diskussion um Kombilöhne für Geringverdiener auch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Erwägung zu ziehen.
In 18 der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in drei Kandidatenländern existieren bereits nationale Mindestlöhne. Der Mindestlohn wird von den Regierungen der Länder üblicherweise nach Konsultation der Sozialpartner festgelegt und hat Gesetzeskraft. Er gilt in der Regel in der jeweiligen Volkswirtschaft für alle Arbeitnehmer und alle Berufe.
Einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn von mindestens 1.000 € monatlich gibt es neben Luxemburg auch in den Niederlanden, in Belgien, Frankreich, Großbritannien und Irland.
Zwischen 471 und 605 € monatlich beträgt der Mindestlohn in Griechenland, Malta, Spanien, Portugal und Slowenien. Knapp vor dem Schlusslicht Lettland rangieren Litauen, die Slowakei, Estland, Polen, Ungarn und Tschechien sowie Bulgarien, Rumänien und die Türkei. In diesen Ländern reicht der Mindestlohn von 61 bis 240 € pro Monat.
Die sieben EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Österreich, Italien, Schweden, Finnland, Dänemark und Zypern schreiben keine Mindestlöhne vor.
Dagegen gibt es auch in den USA Mindestlöhne. Der geltende Satz beläuft sich auf Bundesebene auf umgerechnet 727 €. In einigen US-Bundesstaaten liegen die Mindestlöhne darüber.
Auch wenn in Deutschland bislang kein nationaler Mindestlohn existiert, gibt es allgemein verbindliche Mindestlöhne auf Basis von Tarifverträgen. Solche Mindestlohn-Tarifverträge gelten zur Zeit im
•Baugewerbe (10,20 € West/8,80 € Ost)
•Maler- und Lackiererhandwerk (7,85 € West/7,15 Ost)
•Dachdeckerhandwerk (10,0 € Ost/West)
•Gebäudereinigung (7,87 € West/6,36 € Ost)
Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung
Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) eines Tarifvertrags bewirkt nach deutschem Recht, dass die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags auch für alle bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb des sachlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags verbindlich werden.
Der Bundesminister für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisation der Arbeitgeber und der Spitzenorganisation der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn
•die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und
•die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Einige Gewerkschaften fordern als tarifpolitische Alternative zum Mindestlohn, das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung stärker zu nutzen.
Geprüft wird nun die Möglichkeit, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auszuweiten, um somit eine generelle gesetzliche Regelungen von Mindestlöhnen zu schaffen und damit einen Eingriff in die Tarifautonomie zu umgehen.
Entsprechend dem Koalitionsvertrag werden wir auch die Ausweitung des Entsendegesetzes über den Baubereich hinaus auf andere Branchen prüfen, wenn entsprechende unerwünschte soziale Verwerfungen durch Entsendearbeitnehmer nachgewiesen werden. Zunächst soll laut Koalitionsvertrag die Ausweitung des Entsendegesetzes auf die Gebäudereinigerbranche erfolgen.
Fazit
In der Koalitionsarbeitsgruppe werden wir uns dafür einsetzen, dass zunächst die bestehenden Instrumente insbesondere auf ihre Systematik und Transparenz hin überprüft werden. Was wir auf jeden Fall vermeiden müssen, ist eine Dauersubventionierung durch ein zusätzliches Instrument. Dies ist arbeitsmarktpolitisch nicht effizient und finanzpolitisch ein Irrweg. Für die SPD ist wichtig, dass in der Koalitionsarbeitsgruppe auch die Themen Entsendegesetz und Mindestlohn in einen engen Zusammenhang gestellt werden.