Rede von Siegmund Ehrmann zur Maikundgebung am 01. Mai 2013

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

für Sozialdemokraten fällt dieser 1. Mai, der Tag der Arbeit, in ein besonderes Jahr: Wir feiern unseren 150zigsten Geburtstag!
Am 23. Mai, vor 150 Jahren wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, aus dem die SPD hervorging. 150 Jahre politischer Kampf für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. 150 Jahre engagiertes Eintreten für Emanzipation, für Demokratie und Gerechtigkeit. Diesen Zielen ist die SPD nach wie vor verpflichtet. Für diese Ziele streiten wir Seit an Seit mit den Gewerkschaften!

Wir erinnern uns heute aber auch daran, dass es morgen 80 Jahre her ist, dass die Nazis die Gewerkschaftshäuser stürmten und die Gewerkschaften verboten. Viele Gewerkschafter wurden ermordet, inhaftiert oder ins Exil getrieben. Wir gedenken der tapferen Frauen und Männer; ihr Vermächtnis gilt es zu wahren.

Diese Ereignisse am 2. Mai 1933 sind zugleich Mahnung, dass zu einer freien und gerechten Gesellschaft freie Gewerkschaften und starke Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben und Verwaltungen zwingend dazu gehören. Starke Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte gewährleisten, dass abhängig Beschäftigte dem Arbeitgeber, dem Kapital, auf Augenhöhe gegenüberstehen!

Diese freiheitliche, demokratische Kultur – mühsam erarbeitet nach dem Grauen des totalitären Faschismus – ist kein Selbstläufer. Nazis, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen bei uns keinen Platz haben – nicht im Betrieb, nicht im Alltag, nicht in der Gesellschaft. Und gerade deshalb bedauere ich, dass selbst nach Aufdeckung der NSU-Mordserie weder die Bundesregierung noch die Regierungskoalition sich zu einem Verbotsantrag gegen die NPD entschließen konnte. Natürlich verhindert ein Parteienverbot kein braunes Denken. Aber, dass eine antidemokratische Partei aus Steuermitteln finanziert weiter hetzen darf, ist nicht zu ertragen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der DGB hat diesen 1. Mai unter das Motto „Gute Arbeit, sichere Rente und ein soziales Europa“ gestellt.

Gute Arbeit!

Unsere Gesellschaft ist auf Arbeit gegründet. Arbeit ist für die meisten mehr als nur ein Job, sondern ein Beruf. Ein Beruf, der eine lange Ausbildung erfordert. Und mit einem Beruf verdient man nicht nur Geld, er stiftet Identität. Für die allermeisten Menschen bedeutet Arbeit eben nicht nur Broterwerb. Arbeit bedeutet auch, am Leben teilzunehmen, mitten in der Gesellschaft.

Der Umkehrschluss: Wer gegen seinen oder ihren Willen außen vor bleibt, wer keinem Beruf nachgehen kann, bleibt auch in vielen Bereichen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Dies entwürdigt. Allein deshalb darf verantwortliche Politik im Interesse der Menschen sich niemals mit verbreiteter Arbeitslosigkeit abfinden.

Der wichtigste Wettbewerbsfaktor Deutschlands sind seine gut ausgebildeten Frauen und Männer. Qualifizierte Beschäftigte, gute Produkte und Produktionsverfahren sind die Voraussetzungen, um im international bestehen zu können. Das verträgt sich nicht mit Billiglohnstrategien. Wenn wir dauerhaft besser sein wollen als andere, brauchen wir gute Fachkräfte und hochqualifizierte Belegschaften.

Doch: Anspruch und Wirklichkeit fallen immer mehr auseinander. Seit einigen Jahren erleben wir einen Prozess massiver Entwertung von Arbeit.

Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist tief gespalten. Der Niedriglohnsektor ist deutlich gewachsen. Prekäre Formen von Beschäftigung, vor allem sachgrundlose Befristungen und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, haben zugenommen.

Eine weitere Spaltung verläuft weiterhin zwischen Männern und Frauen: Frauen verdienen bei gleicher Arbeit 22 % weniger als Männer in vergleichbarer Tätigkeit! Das ist ein gesellschaftlicher Skandal! Das ist ein Beispiel, dass der Markt aus sich heraus keine Gerechtigkeit schafft. Da muss der Gesetzgeber ran: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt.

Bildung, Betreuung, Gleichstellung

Zudem brauchen wir eine Politik, die unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder einer bestehenden Behinderung Chancen und Teilhabe gewährleistet. Und deshalb müssen wir uns vorrangig nicht nur dem Kindertagesstättenausbau, sondern allen Sektoren der Bildung (Schule, Ausbildung, Studium, Weiterbildung) widmen.

Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten, an den gesellschaftlichen und beruflichen Zusammenhängen teilnehmenden Leben.

Das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung hat in Deutschland an Kraft verloren. Und der Blick in die von der Krise geplagten Nachbarstaaten in Europa zeigt, was sozial und politisch droht, wenn einer ganze Generation der Zugang zur Teilhabe an Arbeit und damit auch am gesellschaftlichen Leben versperrt wird.

Neben einem starken Akzent in der Bildungspolitik brauchen wir eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wie ist heute die Lage? Fast jeder und jede Vierte arbeitet in unserem Land im Niedriglohnbereich. Konkret sind das fast sieben Millionen Menschen, die für weniger als 8,50 Euro in der Stunde arbeiten. Rund 1,4 Millionen Menschen bekommen nicht einmal fünf Euro.

Im Ergebnis müssen 1,3 Millionen Menschen am Ende des Monats zusätzlich Geld vom Staat beantragen, obwohl sie hart arbeiten. 400.000 Menschen arbeiten Vollzeit, den ganzen Tag, fünf Tage die Woche und trotzdem reicht es nicht für Miete, für Kleidung, die eigenen Kinder.

Das ist unwürdig und darum brauchen wir eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Und zwar jetzt! Für uns gilt: „Sozial ist, was Arbeit schafft, von der man anständig leben kann“!

Arbeit muss gerecht entlohnt werden. Darum wollen wir – gemeinsam mit den Gewerkschaften – einen gesetzlichen Mindestlohn. Mindestens 8,50 Euro, gesetzlich garantiert und überall.

Über den Mindestlohn hinaus sagen wir aber auch: wir wollen die Flächentarifverträge und unser bewährtes Tarifvertragssystem wieder stärken. In diesem und im letzten Jahr hat es gute Tarifabschlüsse gegeben. Zum Beispiel im öffentlichen Dienst, in der Metall- und Elek-troindustrie und in der Chemischen Industrie. Die Tarifbindung erodiert in dramatischem Maße. Mittlerweile werden nur noch etwas mehr als die Hälfte aller Beschäftigten von einem Flächentarifvertrag erfasst. Immer mehr Arbeitgeber entziehen sich der Tarifbindung. Sie versuchen, mit Lohndrückerei Wettbewerbsvorteile zu erzielen, statt über gute Produkte und die Qualität der Leistung. Deshalb ist es auch blanker Unsinn zu behaupten, der gesetzliche Mindestlohn sei ein Eingriff in die Tarifautonomie. Anders herum wird ein Schuh draus: Wenn immer mehr Betriebe aus der Tarifbindung aussteigen, dann ist der Mindestlohn die notwendige Ergänzung des Tarifvertragssystems.

Wir müssen diese Erosion der Tarifbindung stoppen. Ein geeignetes Instrument ist die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge. Derzeit sind nur etwa 1,5 Prozent der Tarifverträge allgemeinverbindlich, das heißt, sie gelten für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber, auch wenn sie nicht tarifgebunden sind. Die gesetzlichen Hürden, insbesondere das 50 Prozent-Quorum, sind nicht realitätsnah.

Befristete Beschäftigung

Zur neuen, gerechten Ordnung auf dem Arbeitsmarkt gehört auch die Einschränkung von befristeten Arbeitsverträgen. Mittlerweile wird jeder zweite neue Arbeitsvertrag befristet abgeschlossen. Es geht vor allem um junge Menschen.

Leiharbeit und Werkverträge

Ja – es stimmt: Unser ursprüngliches Ziel, die Arbeitnehmerüberlassung als Übergang für mehr Beschäftigung in den ersten Arbeitsmarkt zu nutzen, ist nicht erreicht worden. Die Zahl der Beschäftigten in Leiharbeit und mit Schein-Werkverträgen, in befristeten und geringfügigen Arbeitsverhältnissen steigt. Und das alles geht zu Lasten unbefristeter und sozial abgesicherter Normalarbeitsverhältnisse. Das hatten wir uns anders vorgestellt. Deshalb müssen wir diese Fehlentwicklung schnell stoppen!

Wenn eine gesetzliche Regelung von vielen Unternehmern so schamlos missbraucht wird, dann muss man dem einen Riegel vorschieben.

Wir brauchen darum eine klare gesetzliche Regelung zur Abgrenzung von Werkverträgen, Leiharbeit und regulärer Beschäftigung.

Sichere Renten

Der gesetzliche Mindestlohn, die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen, die Einschränkung von befristeten Arbeitsverträgen, die Stärkung des Tarifvertragssystems. Das sind wichtige Säulen, auf denen eine gerechte Ordnung auf dem Arbeitsmarkt stehen kann.

Und sie sind auch Voraussetzung für die Vermeidung von Armut im Alter. Die Sicherung eines ordentlichen Lebensstandards im Alter ist nur möglich, wenn die Basis dafür im Erwerbsleben gelegt wird.

Gute Arbeit ist Voraussetzung für gute Renten

Dabei ist klar: Es gibt nicht den einen Königsweg, um Altersarmut zu verhindern. Es müssen viele Dinge ineinander greifen. Aber sicher ist: Wer selbst trotz Vollzeitarbeit keinen existenzsichernden Lohn bekommt, der wird erst recht keine ausreichende Rente erwirtschaften. Wir müssen die erste Säule der Altersvorsorge stärken. Daneben wollen wir die betriebliche Altersversorgung wieder mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugänglich machen und die Effizienz der Riester-Rente verbessern.

In der gesetzlichen Rentenversicherung müssen zudem Zeiten, in denen sehr wenig verdient wurde, in der Rentenversicherung höher bewertet werden. Dazu gehört auch, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit höher bewertet, dass Erziehungszeiten auch für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, angemessen berücksichtigt werden.

Und wichtig ist auch, dass das Risiko der Erwerbsminderung besser abgesichert wird. Denn Erwerbsminderung ist heute ein zentrales Armutsrisiko im Alter. Und der Anteil der Bezieher von Erwerbsminderungsrenten an allen Rentenneuzugängen eines Jahrgangs steigt.

Wir schlagen deshalb vor, dass die Zurechnungszeiten für die Berechnung einer Erwerbsminderungsrente sofort um zwei Jahre verlängert werden. Und mindestens genauso wichtig ist die Abschaffung der Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten. Abschläge sind gerechtfertigt, wenn man freiwillig vorzeitig in Rente geht. Erwerbsminderung ist aber keine freiwillige Entscheidung, sondern ein Schicksalsschlag oder Folge harter körperlicher Arbeit. Das darf nicht zusätzlich noch bestraft werden. Die Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten gehören abgeschafft!

Mindestsicherung im Alter

Zusätzlich brauchen wir auch eine Mindestabsicherung im Alter. Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, der darf am Ende des Erwerbslebens nicht auf Grundsicherung verwiesen werden. Darum werden wir eine aus Steuermitteln finanzierte Solidar-Rente einführen, die nach 40 Jahren Vollzeiterwerbstätigkeit eine Absicherung deutlich oberhalb der Grundsicherung garantiert.

Abschlagsfreier Rentenzugang

Und wir brauchen bessere Übergänge. In einer zunehmend differenzierten Arbeitswelt ist es schwieriger geworden, für alle gleiche Formen des Eintritts ins Rentenalter zu schaffen.

Schon heute schaffen es viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht, das abschlagsfreie Rentenalter von 65 Jahren zu erreichen. Für solche Berufsgruppen brauchen wir flexiblere Lösungen, ohne dass der Übergang in die Rente mit großen finanziellen Verlusten verbunden ist.

Deshalb wollen wir allen Versicherten nach 45 Versicherungsjahren den abschlagsfreien Renteneintritt bereits ab 63 ermöglichen.

Soziales Europa

Eine Politik für mehr Gerechtigkeit in Deutschland und eine Politik für mehr Wachstum in Europa sind deshalb keine Gegensätze. Die Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland ist überfällig. Gleichzeitig kann die europäische Krise nur überwunden werden, wenn die überschuldeten Länder wieder Wachstumsimpulse bekommen.
Dazu gehört die Stärkung der Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Dazu gehört auch die Stärkung von Investitionen in die Realwirtschaft. Die geplatzten Immobilienblasen waren ein Ausdruck der Entkoppelung der Entwicklung auf den Kapitalmärkten von der Realität wirtschaftlicher Produktion.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das Jahr 2013 ist ein besonderes Jahr; gerade die besonderen Gedenktage bieten die Chance, kritisch zu bilanzieren und sehr deutliche Akzente zu setzen, wie wir die Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität so in die Gegenwart übersetzen, das der Zusammenhalt unseres Landes aber auch der Zusammenhalt Europas gestärkt wird. Die große Herausforderung besteht darin, den Vorrang der Politik wieder herzustellen. Frau Merkel spricht von „Mehr Freiheit wagen“ und fordert eine „marktkonforme Politik“. In den letzten Jahren konnten wir beobachten, was passiert, wenn die Politik ihre eigene Idee von Gesellschaft aufgibt und diese den Märkten überlässt. Dies hat zu einer sozialen Schieflage in unserem Land geführt, die selbst in einem von der Regierung nachgebesserten Armutsbericht unübersehbar ist! Nein: wir brauchen keine „marktkonforme Politik“ sondern einen „politikkonformen Markt“ – in der besten Tradition der sozialen Marktwirtschaft.

Es geht um die Würde der Menschen, den Wert der Arbeit,gegen Gier und Ellenbogengesellschaft! Für mehr Gerechtigkeit und Zusammenhalt in Deutschland und Europa!

Glückauf!

 

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